Der Alte im Zug

Jens betätigte den Knopf des Fahrstuhls und bemerkte dabei die Haare von Frau Gerstmann auf dem Ärmel seines Mantels. Lächelnd zupfte er sie ab und vergewisserte sich, dass Frau Gerstmann sonst keine Spuren hinterlassen hatte. Im Grunde war es für seinen Beruf vollkommen egal, wie er sich kleidete, aber Jens hatte ein stilvolles Auftreten schon immer als einen wesentlichen Teil seiner Berufsehre verstanden. Mit einem leisen Gong öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und Jens trat hinein.

Die Tür des ICEs öffnet sich leicht rumpelnd. Während die Lautsprecherfrau auf dem Bahnsteig „Bitte nicht einsteigen“ sagt, steigt Jens in den Zug ein. So gut wie alle Fahrgäste sind bereits am Berliner Hauptbahnhof ausgestiegen und so geht Jens mit zügigen Schritten und suchendem Blick durch die Waggons. Erst im dritten Wagen wird Jens fündig. Ein älterer Herr mit grauen Haaren sitzt an einem Vierertisch und sein Kopf ruht auf seinen auf dem Tisch verschränkten Armen.
Jens verlangsamt seine Schritte, je näher er dem Mann kommt und bleibt schließlich direkt vor ihm stehen, ohne, dass sich bei dem Ruhenden eine Reaktion zeigt. Dies ändert sich auch nicht, als er sich auf den gegenüberliegenden Platz des Tisches setzt und den Mann vergewissernd am Arm berührt. Im Licht der durch die Fenster hineinscheinenden Morgensonne sind schwebende Staubkörner zu sehen, die träge von jener Stelle des Armes aus wegtreiben, die eben berührt wurde. Wenn man sich genau auf den Dunst konzentriert, kann man beinahe sehen, wie er sich langsam über den Körper ausbreitet. Schon nach einigen Minuten treibt vom gesamten Arm des Mannes ein leicht schimmernder Staub in den Waggon hinein. Auch nach Jahren ist Jens unverändert fasziniert von diesem Anblick, so dass er sich einige Minuten Zeit nimmt. Regungslos dasitzend beobachtet er, wie der leuchtend wegtreibende Dunst sich langsam über den alten Mann hinweg ausbreitet.

Als Jens einige Zeit später den Türknopf drückt, um den nach wie vor im Bahnhof stehenden Zug zu verlassen, hört er hinter sich den erstickten Schrei der Zugbegleiterin und tritt ohne sich umzudrehen auf den sonnenüberfluteten Bahnsteig. Mit leicht zusammengekniffenen Augen macht er sich auf den Weg die Rolltreppe herab, um in der Bahnhofsvorhalle den ersten Kaffee des Tages zu trinken.

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