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Der alte Mann und das Meer

Es war ein Dienstagnachmittag im März. Der Wirt stand hinter der Theke und blickte über die leeren Plätze seines Bistros und die Strandpromenade hinweg, auf die leeren Bänke der Seebrücke. Es regnete nicht, aber die Wolken über ihm waren so grau, dass es für das Ausbleiben seiner Gäste keinen Unterschied machte. Also blickte er weiter auf die Seebrücke.

Eine ganze Weile passierte nichts. Die Wolkendecke zog über ihn hinweg und zwei Möwen stritten sich auf einer der Bänke um ein Brötchen. Dann kam ein Mann die Strandpromenade entlang gelaufen. Er trug einen sauber gebügelten, dunkelgrauen Anzug mit Weste und blauer Krawatte und ging, auf einen Schirm gestützt, die Promenade entlang. Sein Haar war schneeweiß und er wirkte so zerbrechlich, dass er in jedem Moment in einen Haufen Scherben hätte zusammenfallen können. Als er ankam blicke er zum Wirt, nickte ihm zu und setzte sich auf eine Bank ganz am Ende der Brücke. Dann legte der Mann den Schirm neben sich und zog ein Buch aus seiner Tasche und begann zu lesen.

Der Nachmittag verging, die Wolkendecke zog ungebrochen über den Strand und der Wirt stand weiter im Bistro. Sein Blick hinter der Theke hervor wurde nur unterbrochen von zwei einzelnen Spaziergängern, die in einem seiner Strandkörbe einen Tee tranken um dann weiter die Promenade entlang zu laufen. Als die Dämmerung einsetzte und er grade begann, die Stühle zusammenzustellen und die Strandkörbe zu verschließen, bemerkte er, wie der alte Mann zurück von der Promenade kam. In der einen Hand das Buch, mit der anderen Hand auf den Schirm gestützt. Während er von der Seebrücke zurück auf die Promenade abbog, nickte er dem Wirt zu und der Wirt nickte zurück.

Eine Woche verging. Es war Nachmittag und wieder stand der Wirt hinter dem Tresen. Im Gegensatz zu letzter Woche ließ sich nicht eine Wolke am Himmel blicken und das Wetter war angenehm warm. Die Promenade war gut besucht und auch im Bistro blieb kein Platz lange unbesetzt. Der Wirt war so beschäftigt, dass er, außer seine Gäste, um die er sich kümmerte, nichts von der Umwelt wahrnahm. Mit einer Ausnahme. Als er von einem Tisch aufblickte sah er, wie der alte Mann, den er letzte Woche beobachtet hatte auf der Promenade am Aufgang zur Seebrücke stand und ihn anblickte. Er trug den selben blauen Anzug wie in der letzten Woche und stützte sich auf dem Schirm auf. Als sich ihre Blicke trafen, nickte der Mann und ging auf die Seebrücke zum Ende der langen Reihe von Bänken. Als er bemerkte, dass dort kein Platz für ihn frei war, stellte sich der Mann an das Geländer und wartete. Währenddessen wandte sich der Wirt wieder seinen Gästen zu.

Als er nach einer Weile noch einmal zur Brücke schaute, sah er, wie zwei Touristen aufstanden und der Mann sich auf den frei gewordenen Platz am Ende der Bankreihe setzte. Den Schirm neben sich auf die Bank legte und anfing in seinem Buch zu lesen.

Während die Sonne immer tiefer sank, nahm auch die Anzahl der Gäste im Bistro langsam, aber kontinuierlich ab, sodass der Wirt das erste Mal seit dem Vormittag die Zeit fand durchzuatmen. Er blickte hinter seiner Bar auf die Promenade und sein Blick traf erneut den Blick des Mannes. Er stand an der Grenze zwischen Promenade und Brücke aufgestützt auf dem Schirm, aber ohne das Buch. Er nickte dem Wirt zu. Der Wirt nickte zurück. Dann ging er. Am Ende der mittlerweile menschenleeren Seebrücke lag das nun herrenlose Buch auf der Bank.

Der März verging, dicht gefolgt von April und Mai. Jede Woche am Dienstagnachmittag kam der Mann zur Seebrücke. Jede Woche nickte er dem Wirt freundlich zu und der Wirt nickte ebenso freundlich zurück. Dann setzte er sich auf seine Bank am Ende der Brücke und las. Manchmal nahm er abends das Buch wieder mit, manchmal ließ er es auf der Bank liegen. An Tagen, an denen es regnete, klappte der Mann seinen Schirm auf und klemmte den Griff zwischen die Bretter der Bank. Das Buch ließ er an diesem Tag auf der Bank liegen, sorgfältig in eine Plastiktüte gewickelt.
Im Laufe der Monate hörte der Wirt immer wieder, wie sich seine Gäste über den Mann unterhielten. Darüber, wie der Mann das Buch laut vorlas. Einige Eltern unterhielten sich darüber, dass sie mit ihren Kindern sitzen geblieben sind um zuzuhören, andere fanden es gruselig und fragten, warum denn niemand etwas gegen den Mann unternehme?

Es war Juni, als der Wirt eines Dienstagmittags in das Bistro kam, um festzustellen, dass der Strom ausgefallen war. Er kontrollierte die Geräte, prüfte die Sicherungen, aber nichts davon sorgte dafür, dass der Strom wieder floß. Die Mitarbeiterin der Stadtwerke verstand sein Problem, vor morgen konnte sie aber keinen Techniker entbehren, der sich dem Problem annahm. Für den Wirt bedeutete dies, dass er keine Chance hatte heute zu öffnen und er einen kompletten Tagessatz Einnahmen verlor. Um zumindest etwas Sinnvolles zu erreichen, setzte er sich auf seine Gäste-Terrasse und begann damit, die Belege für seine Steuererklärung zu sortieren, musste aber bald feststellen, dass dies seiner Laune nicht half. Er blickte auf die Uhr: Fast 15 Uhr. Einer spontanen Eingebung folgend, warf er die Belege zurück in den Schuhkarton und ging zur Seebrücke. Dort setzte er sich auf den vorletzten Platz der Bank.

Eine halbe Stunde verging, als er den alten Mann am Aufgang zur Brücke sah. Der Mann sah das geschlossene Bistro und blickte sich dann irritiert um. Dann traf sein Blick den Blick des Wirtes. Ein leichtes Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen und er nickte dem Wirt zu. Der Wirt nickte zurück. Und dann kam der Mann die Seebrücke hinauf und setzte sich neben den Wirt. Er legte den Schirm neben sich, holte das Buch aus der Tasche und begann zu lesen.
Er las mit ruhiger Stimme. Laut genug, dass man ihn trotz des Rauschens der Wellen verstehen konnte, aber so leise, dass man sich grade so ein bisschen konzentrieren musste, um ihn verstehen zu können. Um ihn herum kamen und gingen Spaziergänger. Die meisten bemerkten nicht was er tat, aber manche blieben eine Weile um ihn herum sitzen, um ihm zuzuhören, bevor sie zurück zur Promenade gingen. Der Wirt blieb sitzen und hörte zu, bis es Abend war und der Mann das Buch auf der letzen Seite zuklappte und es neben sich auf die Bank legte.

„Wissen Sie?“, sagte er, ohne auf die Antwort zu warten, “Ich habe Anfang des Jahres meine Frau verloren. Ihre Augen waren schon lange nicht mehr gut und deshalb haben ich und unsere Kinder ihr immer vorgelesen. Jetzt liegt sie irgendwo da draußen im Meer und niemand liest ihr mehr vor.” Er hört auf zu sprechen und blickt aufs Meer. “Niemand außer mir.”

Einige Minuten vergehen. Der Wirt würde gerne etwas sagen, aber gleichzeitig fühlt es sich falsch an. Dann schaut der alte Mann wieder zu ihm. Während einzelne Tränen über sein Gesicht laufen, zeichnet sich die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht ab. Er nickt dem Wirt freundlich zu. Der Wirt nickt zurück. Dann geht er, auf seinen Schirm gestützt, die Brücke hinunter zur Promenade. Das Buch hinter ihm auf der Bank liegend.

Jahre vergingen. Und seit jenem Dienstagnachmittag im März verging keine Woche davon, in welcher der Mann nicht zur Brücke kam um seiner Frau vorzulesen. Weder Regen noch Minusgrade konnten ihn davon abhalten. Im Winter hatte es sich der Wirt angewöhnt dem Mann eine Tasse Tee und eine Decke hinzustellen. Im Sommer eine Flasche Wasser. Er wohnte in der Nähe und nahm sich die Zeit dafür, selbst wenn sein Bistro nicht geöffnet hatte. Manchmal blieb er dann neben dem Mann sitzen und hörte seinen Geschichten zu. Ansonsten verlor niemand von ihnen ein Wort. Nur ein gegenseitiges freundliches Nicken.

Es war ein Dienstag im Juni. Der Wirt stand mit einer Flasche Wasser an der Ecke seines Bistros und blicke die Promenade hinaus. Die übliche Zeit war bereits eine ganze Weile vorbei, aber an ihm vorbei gingen nur Spaziergänger, die ihn teilweise irritiert musterten. Irgendwann ging der Wirt wieder ins Bistro. Er konnte seine Thekenkraft nicht ewig mit dem Sommer-Ansturm allein lassen, aber trotzdem wanderte sein Blick immer wieder zur Promenade, jedoch ohne dass er sah, wonach er suchte.
Auch die darauf folgenden Wochen vergingen, ohne dass der Wirt den alten Mann traf. Er fragte bei seinen Angestellten und den anderen Händlern auf der Promenade, aber auch an anderen Wochentagen hatte niemand mehr den Mann gesehen. Je mehr Wochen vergingen, desto unausweichlicher wurde der logische Schluss und desto trauriger wurde der Wirt.

Es war ein Dienstag im August. Im Licht der Morgensonne trug der Wirt zwei der Tische aus dem Aussenbereich seines Bistros in sein Lager. An dessen Stelle hob ein LKW-Kran eine ausgemusterte Telefonzelle an den Rand seiner Gästeterrasse, die dann von Bauarbeiten im Terassenboden verankert wurde. Als die Arbeiter fertig waren holte der Wirt Farbe, Bretter und Werkzeug aus seinem Schuppen und begann damit die Zelle neu zu streichen und Regalbretter ins Innere zu schrauben. Nachdem die gesamte Zelle mit Regalen ausgekleidet war verschwand er noch einmal ins Lager und holte verschiedene Bücherkisten, die er im letzten Monat gesammelt hatte und begann die Regale daraus einzuräumen. Zuletzt hing er ein Schild über die Zelle, dass jeden dazu einlud sich an den Büchern zu bedienen und eigene Bücher dazu zu stellen. Er machte drei Schritte zurück, betrachtete seine Bücherei und nickte.
Dann schaute er auf die Uhr und nickte noch einmal.

Er ging zu seiner neuen Aushilfe, die er extra für die Dienstagnachmittage eingestellt hatte und vergewisserte sich, dass bei ihr alles in Ordnung war. Dann nahm er seinen Schirm hinter der Theke und ging noch einmal zur Bibliothek um sich ein Buch auszusuchen. Mit dem Schirm und dem Buch ging er die Seebrücke hinauf zur hintersten Platz der letzten Bank. Er legte den Schirm neben sich, schlug das Buch auf und begann vorzulesen.

Von autistischen Zügen

Manchmal entstehen aus Twitter-Blödeleien dann doch tatsächlich Blogtexte. So in diesem Fall ein Drehbuchfragment von MrsGreenberry von mir. Weit weg davon ernst genommen, geschweige denn sich selbst ernstzunehmen, aber an ernstgemeinten Inspirationen von anderen mangelte es uns dann leider auch nicht.


Szenerie: Ein warmer, heller Sonnentag, die Kamera fährt an einem Schmetterling entlang über einen Rangierbahnhof, auf dem einige junge Loks fröhlich spielen. Sie fährt auf eine einzelne Lok, die Abseits auf einer Rangierscheibe immer wieder im Kreis fährt.

Erzähler(off): Das ist Clemens. [bedeutungsschwere Pause]. Clemens leidet an Autismus. Er ist gefangen in seiner eigenen Welt und kümmert sich nicht um andere Menschen. Während andere Loks fröhlich miteinander spielen, ist Clemens nur mit sich selbst beschäftigt.

(Die Kamera fokussiert nach Clemens nun die im Hintergrund spielenden Züge. Melancholische Geigenmusik setzt ein.)

Erzähler(aus dem off. weiterhin begleitet von der Geigenmusik): Gefühle sind Clemens fremd. Freude, Trauer oder Mitleid kann er nicht empfinden.

(Die Kamera zoomt nun aus der Szene hinaus. Eine traurige Mutterlok wird sichtbar, die Clemens beobachtet. Die Kamera wechselt erneut und fährt langsam über ein vergilbtes Foto, auf dem Clemens allein auf einem Abstellgleis steht und mit seinem Schornstein Seifenblasen macht.)

Mutterlok(aus dem Off): Ich habe schon früh gemerkt, dass mit Clemens etwas nicht stimmt. Alle anderen Kinder waren immer so fröhlich. Bei Clemens waren nie Gefühle zu sehen.

Erzähler(off): Dann kam die schreckliche Gewissheit. [bedeutungsschwere Pause] Autismus. Prognose: unheilbar. Nun war es klar: Clemens wird niemals Beziehungen zu anderen Zügen aufbauen können, niemals ein selbstständiges Leben führen. Für immer ein Gefangener seiner eigenen Welt sein. Die Ursachen dieser schweren Erkrankung vermuten Experten in der Masernimpfung, die Clemens als Kleinkind erhielt. Noch heute macht sich seine Mutter große Vorwürfe. Noch dazu beginnt für die Eltern der schwere Weg, ihn aus seiner Welt zu befreien. Nach langer Suche finden sie einen Spezialisten, der ihnen helfen kann.

(Szenenwechsel, Besprechungszimmer eines Arztes, Blick über die Schulter der Mutter auf den Arzt)

Arzt: Die Erkrankung ihres Sohnes ist sehr ernst. Er wird den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein, doch mit viel Geduld und Trennkost können kleine Fortschritte erzielt werden, aber trotz allem wird er immer ein sehr kranker autistischer Zug sein. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der gluten- und kaseinfreien Ernährung gemacht. Auch der Verzicht auf Kohlehydrate kann wahre Wunder bewirken. Außerdem haben wir grade frisch aus den USA von einer neue Behandlungsmethode mit Stuhlverpflanzungen erfahren, die wahre Wunder vollbringen soll.
[er überreicht den Eltern einen dicken Stapel Flyer]
Arzt: Wir wollen doch nichts unversucht lassen, einer jungen Lok wie Clemens zu helfen.

(Szenenwechsel mit Einblendung: Zwei Wochen später)

Erzähler(off): Clemens spricht seine ersten Worte. Zehn Tage Darmspülungen und Trennkost brachten diesen wundervollen Erfolg und verwandelten Clemens in einen ausgelassenen jungen Zug. Clemens wurde ein kleines Stück aus der einsamen Welt seiner unheilbaren Krankheit Autismus befreit.

(Die Szene wird zu Colplay – Paradise ausgeblendet)