Während er durch die große Glasdrehtür tritt, schüttelt Jens vergewissernd den Pappbecher in seiner Hand. Sicher, keinen Tropfen Kaffee zu verschwenden, wirft er ihn in einen Mülleimer am Eingang des großen Foyers. Der elfte des heutigen Tages, aber mit Sicherheit der letzte. Er blickt sich um. Jens steht einige Meter vor einem großen Empfangstresen, hinter dem eine Frau in Schwesternkleidung sitzt. Zu seiner Linken redet ein junges Paar auf einen grauhaarigen Mann im Rollstuhl ein. Die Worte „Hochzeit“ und „Schwanger“ hallen durch den Raum. ‚Alles wie immer‘, denkt er sich und geht an den Fahrstühlen vorbei ins verwaiste Treppenhaus des Altenheims.
Jens steigt die kargen Stufen bis in den vierten Stock hinauf und betritt einen dunklen Flur, in dem er sich orientierend umblickt. „417“ murmelt er leise und macht sich auf den Weg zum Ende des Ganges. Die Zimmertür ist nur angelehnt. Seine Hand tastet sich durch die Dunkelheit zur Türklinke, als er eine Stimme aus dem inneren des Zimmers hört und erstarrt.
„Bist du es, Margarete?“ fragt eine leise brüchige Männerstimme im Raum. „Ich bin nicht Margarete, ich bin Schwester Annika“ antwortet eine junge Frau sanft. „Du bist es, Margarete! Nach all den Jahren!“ erwidert die Stimme unbeirrt. Das fast unhörbare Seufzen der Schwester dringt aus dem Raum, bevor Jens Sie „Es stimmt, ich bin Margarete.“ sagen hört.
„Ich habe auf dich gewartet, jeden Tag und niemals aufgehört.“
„Wirklich niemals?“
„Niemals …“ er stockt bevor er weiterspricht. „Sechs Jahre lang saß ich jeden Tag am Fenster und habe auf dich gewartet.“
„Aber jetzt brauchst du nicht mehr warten. Jetzt bin ich bei dir.“
„Es war nicht umsonst.“
Jens glaubt ein lächeln in seinen Worten zu hören. Dann ist es eine ganze Weile still, nur die leisen, rauen Atemzüge sind zu vernehmen. Regungslos und ohne das geringste Geräusch zu machen, verharrt Jens vor der Tür und horcht in den Raum.
„Ich bin müde“ sagt die brüchige Stimme in die Stille hinein.
„Das ist ok. Du hast solange auf mich gewartet, du hast dir eine Pause verdient.“ sagt die junge Frau, jetzt mit einem leicht belegten Tonfall.
„Wirst du da sein, wenn ich aufwache?“ fragt er sie.
„Ich werde da sein. Und dann musst du nie wieder auf mich warten.“
„Das wird schön.“
Jens macht einen Schritt neben die Tür um durch den Spalt besser in den Raum sehen zu können. Ein dünner Mann mit schütteren, schneeweißen Haaren liegt auf einem Bett an der Wand. Neben ihm sitzt eine junge Frau in Schwesternkleidung und hält seine Hand in ihren Händen. Der Mann lächelt sie an. Jens beobachtet das sanfte Heben und Senken seines Pyjamahemdes. Während der lächelnde Mann langsam die Augen schließt, senkt sich der Brustkorb des Mannes ein letztes Mal.
Vollkommene Stille füllt Raum und den angrenzenden Flur. Als die junge Frau die Hand des Mannes vorsichtig auf seine bewegungslose Brust legt, hat Jens das Gefühl, eine Ewigkeit sei vergangen. Sie beugt sich noch einmal über seine Stirn, flüstert ihm leise „Bis bald“ zu und verlässt mit einer Träne auf ihrer Wange den Raum.
Nachdem sie im Fahrstuhl verschwunden ist, ohne Jens im Schatten des Flures zu bemerken, betritt er Zimmer 417 und zieht die Tür leise hinter sich zu. Diesmal hat er nicht so viel Zeit, bald würde jemand kommen und den Weißhaarigen abholen. Vorsichtig legt Jens seine Hand für einige Sekunden auf die des Mannes. Dann geht er wieder zur Tür und vergewissert sich, dass der Flur leer ist, bevor er den Raum verlässt, in den Fahrstuhl steigt und seinen Schlüssel im Schloss unterhalb der Etagenknöpfe umdreht.
Jens zog den Schlüssel aus dem Schloss und betrat den Korridor vor seiner Wohnung. Es gab Tage an denen die Vorfreude darauf, die Wohnungstür hinter sich zu schließen besonders groß war. Vorsichtig schloss er auf und blickte in die Augen von Frau Gerstmann, die hinter der Tür auf ihn gewartet hatte. Vorsichtig nahm er sie auf seinen Arm und legte seinen Schlüssel im Vorbeigehen auf die Kommode neben der Tür.
Nachdem er Frau Gerstmanns Abendessen sorgfältig auf einen Teller drapiert hatte, begann Jens Kartoffeln zu schneiden. Irgend etwas an seinem letzten Auftrag ließ ihn nicht los. Er grübelte die ganze Zeit, während er sein Essen zubereitete, während er aß und auch danach kreisten seine Gedanken um Margarete. Immer noch in sich versunken nahm er auf seinem Sessel Platz und sein Blick wanderte über die die Lichter der Stadt vor seinem Fenster. Jetzt erinnerte er sich an die Frau, auf die der Sterbende gewartet hatte. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Es war eine ein dunkler Herbstabend und es goss in Strömen. Damals hatte es Jens einige Mühen gekostet, zu diesem Fahrzeug zu gelangen, das am Fuße eines Abhangs in den Bäumen hing. Eine ganze Familie saß in diesem Auto fest und war Jens umfassendster Auftrag an diesem Tag. Die Zeit darüber nachzudenken, ob nicht anderswo jemand auf die Menschen wartete, nahm Jens sich selten. Das war in seinem Beruf einfach nicht möglich. Nur manchmal gab es diese Abende, an denen irgendetwas anders war. So wie heute.
Nachdenklich stand Jens wieder aus seinem Sessel auf, zog die Vorhänge zu und ging ins Schlafzimmer. Frau Gerstmann saß bereits wartend auf seinem Kopfkissen.