19:30 – Berlin Hauptbahnhof, Bahnsteig 13
T minus 28 Minuten, Durchsage Nummer drei, die uns auf die geänderte Wagenreihung des Zuges aufmerksam macht. Allgemeines Desinteresse. Ich klettere über zwei Kinderwagen, um rauszufinden wo mein Wagen voraussichtlich halten wird, und stelle mit Schrecken fest, dass ein kleiner Teil tief in mir sogar die Möglichkeit in Betracht zieht, dass dieser Plan stimmt.
19:42 – Berlin Hauptbahnhof, Bahnsteig 13
Zug fährt ein. Stehe tatsächlich an der richtigen Stelle. Erwäge für einen kurzen Moment, auf die Knie zu fallen und ob dieses Wunders religiös zu werden, verwerfe diesen Gedanken aber recht schnell, um nicht von der Masse überrannt zu werden, welche wütend schreiend zu ihren Wagen rennt und sich darüber aufregt, dass die Bahn sie nicht über die geänderte Wagenreihung informiert hat.
20:06 – Irgendwo hinter Spandau, Wagen 24
Eine bunt gekleidete Frau mit Katze auf dem Arm versucht mir zu erklären, ich säße auf ihrem Platz und sie wolle ja jetzt nicht bis Kiel auf dem Gang stehen. Nach einem kurzen Blick auf den Reiseplan bin ich nicht im falschen Zug, dafür aber anscheinend im falschen Film.
20:26 – Irgendwo hinter der dritten Kuh rechts
Gitte hat nun aufgegeben, dem gesamtem Wagen zu erklären, er würde im falschen Zug sitzen. Hätte ich einen Popcorn-Stand, wäre ich nun weit über alle BAföG-Freibeträge hinauskatapultiert worden und müsste meinem Steuerberater erklären, wie ich es als Student geschafft habe in den Spitzensteuersatz zu kommen. Gitte setzt sich jedenfalls breit grinsend auf den mittlerweile freien Platz mir gegenüber und freut sich wohl auf mein Gesicht wenn ich merke, dass ich im falschen Zug sitze.
20:54 – Wolfsburg Hauptbahnhof
Gitte schafft es, zwei einsteigende Nazis zu überzeugen, dass sie grade in den falschen Zug eingestiegen sind. Nachdem sie ausgestiegen sind, finde ich Gitte ein bisschen weniger schrecklich und lächle der an meinem Notebookkabel kauenden Katze freundlich zu.
20:56 – Immer noch Wolfsburg
Ein hektisch wirkender Zugbegleiter rennt durch den Wagon und sucht die Ursache des Brandgeruchs. Seine Miene hellt sich sichtlich auf, nachdem er die leicht qualmende Katze sieht. Gitte fragt, wie lange es wohl noch bis Kiel brauchen würde. Selbst Gittes Kleidung scheint bei der Antwort des Schaffners bleich zu werden und während der Zug losfährt, beginne ich nach akkubetriebenen Popcornmaschinen zu googlen.
21:20 – Kurz vor Hannover
Genieße die 5 Minuten Ruhe, seitdem Gitte aufgehört hat schreiend zu fordern, wir sollen den Zug sofort wenden. Gehe auf dem Weg zum Klo am panisch blickenden Zugbegleiter vorbei, der sich in einem Abteil vor der fauchenden und kratzenden Katze verschanzt hat und inzwischen mit der Bahnhofssicherheit von Hannover telefoniert.
21:35 – Hannover Hbf
Gitte und ihre Katze werden von je zwei Bahnmitarbeitern aus dem Zug getragen. Der Zugbegleiter klettert erleichtert in dem, was noch von seiner Uniform übrig ist, aus dem Abteil. Frage ihn, was es wohl kosten würde, eine Verkaufserlaubnis für Popcorn in der Bahn zu bekommen.
22:50 – Drei Milchkannen hinter Hamm
Vier Kisten Rotwein werden vom fröhlich singenden Ruderclub Fürstenbüttel hineingetragen.
22:59 – Eine Kiste Rotwein vor Dortmund
Kenne nun alle Variationen von “Ich hab ‘ne Zwiebel auf dem Kopf ich bin ein Döner”, unter meinem Tisch sitzt ein Zugbegleiter und schaukelt apathisch vor und zurück. Schiebe ihm unauffällig die Nummer der Telefonseelsorge zu.
23:30 – Essen Hauptbahnhof
Gehe an vier leeren Rotweinkisten und fünf vollen Ruderern vorbei zur Tür. Werde beim Rausgehen vom Zugbegleiter gebeten, den Brief mit seiner Kündigung am Bahnschalter abzugeben. Entschließe mich, dass es nun doch ein guter Zeitpunkt ist um religiös zu werden, und falle auf die Knie, um dann von einer Masse überrannt zu werden, die wütend schreiend zu ihren Wagen rennt und sich darüber aufregt, dass die Bahn sie nicht über die geänderte Wagenreihung informiert hat.