Author: Benjamin Falk

Der alte Mann und das Meer

Es war ein Dienstagnachmittag im März. Der Wirt stand hinter der Theke und blickte über die leeren Plätze seines Bistros und die Strandpromenade hinweg, auf die leeren Bänke der Seebrücke. Es regnete nicht, aber die Wolken über ihm waren so grau, dass es für das Ausbleiben seiner Gäste keinen Unterschied machte. Also blickte er weiter auf die Seebrücke.

Eine ganze Weile passierte nichts. Die Wolkendecke zog über ihn hinweg und zwei Möwen stritten sich auf einer der Bänke um ein Brötchen. Dann kam ein Mann die Strandpromenade entlang gelaufen. Er trug einen sauber gebügelten, dunkelgrauen Anzug mit Weste und blauer Krawatte und ging, auf einen Schirm gestützt, die Promenade entlang. Sein Haar war schneeweiß und er wirkte so zerbrechlich, dass er in jedem Moment in einen Haufen Scherben hätte zusammenfallen können. Als er ankam blicke er zum Wirt, nickte ihm zu und setzte sich auf eine Bank ganz am Ende der Brücke. Dann legte der Mann den Schirm neben sich und zog ein Buch aus seiner Tasche und begann zu lesen.

Der Nachmittag verging, die Wolkendecke zog ungebrochen über den Strand und der Wirt stand weiter im Bistro. Sein Blick hinter der Theke hervor wurde nur unterbrochen von zwei einzelnen Spaziergängern, die in einem seiner Strandkörbe einen Tee tranken um dann weiter die Promenade entlang zu laufen. Als die Dämmerung einsetzte und er grade begann, die Stühle zusammenzustellen und die Strandkörbe zu verschließen, bemerkte er, wie der alte Mann zurück von der Promenade kam. In der einen Hand das Buch, mit der anderen Hand auf den Schirm gestützt. Während er von der Seebrücke zurück auf die Promenade abbog, nickte er dem Wirt zu und der Wirt nickte zurück.

Eine Woche verging. Es war Nachmittag und wieder stand der Wirt hinter dem Tresen. Im Gegensatz zu letzter Woche ließ sich nicht eine Wolke am Himmel blicken und das Wetter war angenehm warm. Die Promenade war gut besucht und auch im Bistro blieb kein Platz lange unbesetzt. Der Wirt war so beschäftigt, dass er, außer seine Gäste, um die er sich kümmerte, nichts von der Umwelt wahrnahm. Mit einer Ausnahme. Als er von einem Tisch aufblickte sah er, wie der alte Mann, den er letzte Woche beobachtet hatte auf der Promenade am Aufgang zur Seebrücke stand und ihn anblickte. Er trug den selben blauen Anzug wie in der letzten Woche und stützte sich auf dem Schirm auf. Als sich ihre Blicke trafen, nickte der Mann und ging auf die Seebrücke zum Ende der langen Reihe von Bänken. Als er bemerkte, dass dort kein Platz für ihn frei war, stellte sich der Mann an das Geländer und wartete. Währenddessen wandte sich der Wirt wieder seinen Gästen zu.

Als er nach einer Weile noch einmal zur Brücke schaute, sah er, wie zwei Touristen aufstanden und der Mann sich auf den frei gewordenen Platz am Ende der Bankreihe setzte. Den Schirm neben sich auf die Bank legte und anfing in seinem Buch zu lesen.

Während die Sonne immer tiefer sank, nahm auch die Anzahl der Gäste im Bistro langsam, aber kontinuierlich ab, sodass der Wirt das erste Mal seit dem Vormittag die Zeit fand durchzuatmen. Er blickte hinter seiner Bar auf die Promenade und sein Blick traf erneut den Blick des Mannes. Er stand an der Grenze zwischen Promenade und Brücke aufgestützt auf dem Schirm, aber ohne das Buch. Er nickte dem Wirt zu. Der Wirt nickte zurück. Dann ging er. Am Ende der mittlerweile menschenleeren Seebrücke lag das nun herrenlose Buch auf der Bank.

Der März verging, dicht gefolgt von April und Mai. Jede Woche am Dienstagnachmittag kam der Mann zur Seebrücke. Jede Woche nickte er dem Wirt freundlich zu und der Wirt nickte ebenso freundlich zurück. Dann setzte er sich auf seine Bank am Ende der Brücke und las. Manchmal nahm er abends das Buch wieder mit, manchmal ließ er es auf der Bank liegen. An Tagen, an denen es regnete, klappte der Mann seinen Schirm auf und klemmte den Griff zwischen die Bretter der Bank. Das Buch ließ er an diesem Tag auf der Bank liegen, sorgfältig in eine Plastiktüte gewickelt.
Im Laufe der Monate hörte der Wirt immer wieder, wie sich seine Gäste über den Mann unterhielten. Darüber, wie der Mann das Buch laut vorlas. Einige Eltern unterhielten sich darüber, dass sie mit ihren Kindern sitzen geblieben sind um zuzuhören, andere fanden es gruselig und fragten, warum denn niemand etwas gegen den Mann unternehme?

Es war Juni, als der Wirt eines Dienstagmittags in das Bistro kam, um festzustellen, dass der Strom ausgefallen war. Er kontrollierte die Geräte, prüfte die Sicherungen, aber nichts davon sorgte dafür, dass der Strom wieder floß. Die Mitarbeiterin der Stadtwerke verstand sein Problem, vor morgen konnte sie aber keinen Techniker entbehren, der sich dem Problem annahm. Für den Wirt bedeutete dies, dass er keine Chance hatte heute zu öffnen und er einen kompletten Tagessatz Einnahmen verlor. Um zumindest etwas Sinnvolles zu erreichen, setzte er sich auf seine Gäste-Terrasse und begann damit, die Belege für seine Steuererklärung zu sortieren, musste aber bald feststellen, dass dies seiner Laune nicht half. Er blickte auf die Uhr: Fast 15 Uhr. Einer spontanen Eingebung folgend, warf er die Belege zurück in den Schuhkarton und ging zur Seebrücke. Dort setzte er sich auf den vorletzten Platz der Bank.

Eine halbe Stunde verging, als er den alten Mann am Aufgang zur Brücke sah. Der Mann sah das geschlossene Bistro und blickte sich dann irritiert um. Dann traf sein Blick den Blick des Wirtes. Ein leichtes Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen und er nickte dem Wirt zu. Der Wirt nickte zurück. Und dann kam der Mann die Seebrücke hinauf und setzte sich neben den Wirt. Er legte den Schirm neben sich, holte das Buch aus der Tasche und begann zu lesen.
Er las mit ruhiger Stimme. Laut genug, dass man ihn trotz des Rauschens der Wellen verstehen konnte, aber so leise, dass man sich grade so ein bisschen konzentrieren musste, um ihn verstehen zu können. Um ihn herum kamen und gingen Spaziergänger. Die meisten bemerkten nicht was er tat, aber manche blieben eine Weile um ihn herum sitzen, um ihm zuzuhören, bevor sie zurück zur Promenade gingen. Der Wirt blieb sitzen und hörte zu, bis es Abend war und der Mann das Buch auf der letzen Seite zuklappte und es neben sich auf die Bank legte.

„Wissen Sie?“, sagte er, ohne auf die Antwort zu warten, “Ich habe Anfang des Jahres meine Frau verloren. Ihre Augen waren schon lange nicht mehr gut und deshalb haben ich und unsere Kinder ihr immer vorgelesen. Jetzt liegt sie irgendwo da draußen im Meer und niemand liest ihr mehr vor.” Er hört auf zu sprechen und blickt aufs Meer. “Niemand außer mir.”

Einige Minuten vergehen. Der Wirt würde gerne etwas sagen, aber gleichzeitig fühlt es sich falsch an. Dann schaut der alte Mann wieder zu ihm. Während einzelne Tränen über sein Gesicht laufen, zeichnet sich die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht ab. Er nickt dem Wirt freundlich zu. Der Wirt nickt zurück. Dann geht er, auf seinen Schirm gestützt, die Brücke hinunter zur Promenade. Das Buch hinter ihm auf der Bank liegend.

Jahre vergingen. Und seit jenem Dienstagnachmittag im März verging keine Woche davon, in welcher der Mann nicht zur Brücke kam um seiner Frau vorzulesen. Weder Regen noch Minusgrade konnten ihn davon abhalten. Im Winter hatte es sich der Wirt angewöhnt dem Mann eine Tasse Tee und eine Decke hinzustellen. Im Sommer eine Flasche Wasser. Er wohnte in der Nähe und nahm sich die Zeit dafür, selbst wenn sein Bistro nicht geöffnet hatte. Manchmal blieb er dann neben dem Mann sitzen und hörte seinen Geschichten zu. Ansonsten verlor niemand von ihnen ein Wort. Nur ein gegenseitiges freundliches Nicken.

Es war ein Dienstag im Juni. Der Wirt stand mit einer Flasche Wasser an der Ecke seines Bistros und blicke die Promenade hinaus. Die übliche Zeit war bereits eine ganze Weile vorbei, aber an ihm vorbei gingen nur Spaziergänger, die ihn teilweise irritiert musterten. Irgendwann ging der Wirt wieder ins Bistro. Er konnte seine Thekenkraft nicht ewig mit dem Sommer-Ansturm allein lassen, aber trotzdem wanderte sein Blick immer wieder zur Promenade, jedoch ohne dass er sah, wonach er suchte.
Auch die darauf folgenden Wochen vergingen, ohne dass der Wirt den alten Mann traf. Er fragte bei seinen Angestellten und den anderen Händlern auf der Promenade, aber auch an anderen Wochentagen hatte niemand mehr den Mann gesehen. Je mehr Wochen vergingen, desto unausweichlicher wurde der logische Schluss und desto trauriger wurde der Wirt.

Es war ein Dienstag im August. Im Licht der Morgensonne trug der Wirt zwei der Tische aus dem Aussenbereich seines Bistros in sein Lager. An dessen Stelle hob ein LKW-Kran eine ausgemusterte Telefonzelle an den Rand seiner Gästeterrasse, die dann von Bauarbeiten im Terassenboden verankert wurde. Als die Arbeiter fertig waren holte der Wirt Farbe, Bretter und Werkzeug aus seinem Schuppen und begann damit die Zelle neu zu streichen und Regalbretter ins Innere zu schrauben. Nachdem die gesamte Zelle mit Regalen ausgekleidet war verschwand er noch einmal ins Lager und holte verschiedene Bücherkisten, die er im letzten Monat gesammelt hatte und begann die Regale daraus einzuräumen. Zuletzt hing er ein Schild über die Zelle, dass jeden dazu einlud sich an den Büchern zu bedienen und eigene Bücher dazu zu stellen. Er machte drei Schritte zurück, betrachtete seine Bücherei und nickte.
Dann schaute er auf die Uhr und nickte noch einmal.

Er ging zu seiner neuen Aushilfe, die er extra für die Dienstagnachmittage eingestellt hatte und vergewisserte sich, dass bei ihr alles in Ordnung war. Dann nahm er seinen Schirm hinter der Theke und ging noch einmal zur Bibliothek um sich ein Buch auszusuchen. Mit dem Schirm und dem Buch ging er die Seebrücke hinauf zur hintersten Platz der letzten Bank. Er legte den Schirm neben sich, schlug das Buch auf und begann vorzulesen.

Sonntagnachmittag, 18:55 Uhr

(basierend auf wahren Begebenheiten)

*pling*

Im Delirium meiner Post-Pizza-Narkose suche ich den einen der gefühlt 6862 Messenger, der wohl dieses Pling verursacht hat.

„Hey, ich konnte dich gar nicht anschreiben, hier steht, du hast die Freundschaft gelöscht.“

Ich schiebe die Pizza-Narkose beiseite und krame in meinem Gedächtnis nach dem Grund und werde fündig.

Ich: „Moin, ich hatte dir damals auch geschrieben warum.“

Er: „Da stand was, aber warum solltest du mich löschen, nur weil ich mal ein Computerproblem habe.“

Ich: „Dein Mal war in etwa einmal in der Woche. Mitten in der Nacht. Und du brauchtest die Lösung ständig sofort.“

Er: „Aber dafür kann ich doch nichts.“

Ich: „Ich genau so wenig. Du hättest dich sofort darum kümmern können, dass dein Drucker nicht druckt, statt mich 3h vor der Abgabefrist anzuschreiben.“

Er: „Du hattest mir den Computer damals empfohlen, was kann ich dafür wenn der ständig nicht funktioniert. Außerdem sind wir doch Freunde.“

Ich: „Freunde melden sich auch mal, wenn ihr Computer nicht kaputt ist, du antwortest nicht mal auf meine Nachrichten.“

Er: „Ich hab mich doch erst Silvester gemeldet.“

Ich: „Das war vor sechs Monaten und deine Nachricht war >>Frohes Neues, ich hoffe du bist gut reingerutscht. Wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen, mein Laptop spinnt schon wieder.<<„

Er: „Siehst du, ich habe mich gemeldet.“

Ich: „…“

Er: „Ist ja auch egal, ich hab keine Zeit für den Quatsch. Ich fahre morgen in den Urlaub und der Computer will die CD für die Fahrt nicht brennen. Du musst mir noch mal zeigen wie das geht.“

Eine Weile starre ich noch auf das Fenster vor mir. Dann schließe ich den Messenger und beginne nach der Arbeitsmarktsituation auf Inseln ohne Computer und Internetanbindung zu googlen.

Zwei Uhr

Als ich zurück ins Wohnheim komme, ist es zwei Uhr. Schon als sie am Nachmittag Bierbänke und Soundanlage aufbauten, kam ich zum Schluss, es sei besser zu fliehen. Eine Freundin nahm mich freundlicherweise auf. Gegen ein Uhr musste sie jedoch schlafen und ich wieder nach Hause. In meiner Abwesenheit wuchs die Party um drei Laser, zwei Nebelmaschinen und eine undefinierbar große Menge von Menschen.

Train – Wie immer, wenn ich nach einer halben Stunde wachliegen zu dem Ergebnis komme, dass ich ohnehin nicht schlafen werde, laufe ich im Gelände umher. Dazu muss ich zunächst einmal durch die Wand aus teilnahmslos tanzenden Menschen, Nebel und Licht. Dann über drei, ins Smartphone tippende, Studenten die Treppe hinauf.  Von der ersten Etage aus habe ich, an eine Wand gelehnt, einen guten Überblick über alles unter mir.


Lila Wolken – Nach fünfzehnn Minuten habe ich die Dynamik dieser Szenerie in etwa erfasst. Die Wiese vor meinem Fenster ist die Chill-Out-Area. Weit genug vom Eingang mit seiner Tanzfläche und der Waschküche, respektive Bar, entfernt und trotz allem nah genug an der Wand der Hochschule, die an diesem Abend als Toilette fungiert.

36 Grad – Ich sitze direkt über der Nebelmaschine. Irgendwie riecht der Nebel komisch und ich werde leicht benommen. Ich gehe noch eine Etage nach oben. Unter mir füllt und leert sich die Tanzfläche periodisch. Immer wieder wechseln  Gruppen zwischen Tanzfläche und Wiese. Andere auch gleich über den Parkplatz in das Gehölz dahinter. Nach einer Weile kommen sie dann wieder und verschmelzen wieder mit den Menschen auf der Tanzfläche.

What is Love – Ein Einzelner taumelt quer über die Wiese und die Tanzfläche. Immer wieder gibt ihm die Menge genug Freiraum, so dass er niemanden anrempeln kann. Als er plötzlich einen Biertisch umwirft und einige Dutzend leere Flaschen über die Wiese – respektive Chill-Out-Area – verteilt, schwindet der Freiraum und eine undurchdringbare Mauer aus eben noch Feiernden treibt ihn in Richtung der S-Bahn-Station.

Everybody – Drei Glatzköpfige stehen abseits der Tanzfläche. Regungslos beobachten sie das Treiben. Aller fünf Minuten wechseln sie ein paar Worte.

The Riddle – Der taumelnde Einzelgänger kehrt zurück. Drei der Leute, die ihn Richtung S-Bahn geleiteten, beobachten ihn aus der Ferne. Als er einen der Biertische davonträgt, schreiten sie ein. Ohne besonderes Zutun der Drei landen Biertisch und Einzelgänger auf dem Boden. Schnell wird der Biertisch zurück- und der Einzelgänger in die stabile Seitenlage gebracht.

Irgendetwas Lautes – Direkt unter mir versucht ein Student seit einer Stunde meine Nachbarin zu überzeugen, dass seine Hände von Natur aus unter ihr Top gehören. Sie ist die einzige, die ich bis zu diesem Punkt noch keinen Alkohol konsumieren sah. Nach intensiver Argumentation kann sie sich doch mit dem Gedanken anfreunden und verhandelt nun ihrerseits die Position ihrer Hände. Zehn Minuten später verschwinden sie gemeinsam in Richtung ihres Zimmers.

Sowas wie Musik? – Die Wiese/Chillout Area leert sich langsam. Die Tanzfläche nicht. Vereinzelt werden Tische und Bänke abgeräumt und weggebracht. Plötzlich fällt die Musik aus. Nach ersten skandierten Morddrohungen gegen den DJ beginnt die Menge „Marmor, Stein und Eisen bricht“ zu singen. Über den Refrain kommen sie jedoch nie hinaus. Während sich das Textproblem nicht beheben lässt, verschwinden weiter Tische. In der Zeit in der die einen noch singen, beginnen andere Menschen nach ihren Jacken zu suchen. 45 Iterationen “Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht!” später beginnt die Anlage wieder  zu spielen. Im Schein des nahenden Sonnenaufgangs wird die vom Musikausfall ausgelöste Aufbruchstimmung jedoch kaum abgefangen.  Menschen verabschieden sich voneinander. Immer mehr Personen stehen auf der Tanzfläche, statt sich zu bewegen. Die Bewegungen der wenigen Tanzenden werden sparsamer. Jemand trägt eine Couchecke durch die Menge.

Etwas das ein kaputtes Xylophon sein könnte – Die Mengen lichtet sich. Sowohl die der Menschen auf der Tanzfläche, als auch die der Bierflaschen auf der Wiese. Mehrere Studenten fahren mit Ikea-Einkaufswagen umher und sammeln Leergut ein. Die Musik wird für die Suche nach dem Eigentümer eines Samsung Galaxy S5 unterbrochen. Die wenigen, die noch tanzen, bemerken nicht einmal, dass die Musik dafür ausgestellt wurde. Auch Licht- und Nebelmaschinen verschwinden beinahe unbemerkt.

Wer jetzt noch da ist, ist entweder bewusstlos oder räumt leere Flaschen weg. Zwischen diesen Gruppen scheint es jedoch einige Grauzone und Überschneidung zu geben. Irgendjemand fragt mich, ob alles gut sei. Ich nicke nur und tippe meine Beobachtungen weiter auf das Display. Während unter mir aufgeräumt wird, bleibe ich noch eine Weile sitzen und schaue der Sonne dabei zu, wie sie über dem Uni-Gebäuden aufgeht.

Sonnenaufgang über den Gebäuden

Elf Fragen

Im Allgemeinen halte ich Menschen die meiste Zeit über für ziemlich komische Geschöpfe. Dieser seit Jahren grassierende Trend von so einer Art offenen Serienbrief bei dem man anderen Bloggern Fragen stellt, ist sicherlich einer der Gründe, die verhindern, dass mich so schnell jemand vom Gegenteil überzeugt. Nun ist es aber passiert, dass mich die fabelhafte @ribonukleinsau (und hier ist allein der Name schon eine unbeschränkte Folgeempfehlung) mir 11 Fragen ans Bein gebunden hat. Da ich mal irgendwo gelesen habe, man soll Dinge ausprobieren bevor man sie doof findet, hier nun 11 Antworten:

1. Wovor hast du am meisten Angst?

Das spannende an einer sehr ausgeprägten Phantasie ist ja, dass bei jeder Antwort, die ich geben würde, irgendwo in meinem Gehirn ein paar besonders pessimistische Areale aktiv werden würden, die erst dann wieder ruhen, wenn sie etwas finden, das mir noch mehr Angst macht. Das würde ich dann hinschreiben, worauf diese Areale sich herausgefordert fühlen würden. Aktuell ist meine größte Angst also in einer Endlosschleife aus Angst gefangen zu werden, wenn ich zu sehr über diese Frage nachdenke. Oder doch Nilpferde?

2. Hast du dir vor dem Telefonieren schon mal aufgeschrieben, was du gleich sagen möchtest?

Andauernd. Ich bin definitiv kein großer Telefonierer. Wenn ich die Person nicht gut kenne ist ein Telefonat so unangenehm, dass ich die Hälfte vergessen würde, wenn ich mir nicht im Vorfeld eine Liste mit Dingen schreiben würde, die ich besprechen muss.

3. Wenn du eine Sache an Menschen ändern könntest – was wäre das?

Vermutlich würde ich ihnen angewöhnen viel häufiger Klartext zu sprechen.

4. Würdest du dein 10 Jahre jüngeres Ich befragen, haben sich deine Wünsche und Träume von damals erfüllt?

Mein 15-jähriges-Ich steckt grade in einer sehr spannenden Runde Empire Earth und steht daher für Fragen nicht zur Verfügung. Aber vermutlich wäre es ganz zufrieden mit meinem Leben. Mit meinem Computer wäre es das in jedem Fall.

5. Was tust du, wenn dir langweilig ist?

Ich kann es kaum erwarten das mal herauszufinden.

6. Süßes Popcorn oder salziges Popcorn?

Ich glaube ich habe noch nie in meinem Leben salziges Popcorn gegessen. Vielleicht mach ich das wenn mir mal langweilig werden sollte.

7. Gibt es Lieder, mit denen du etwas ganz besonderes verbindest? Welche?

Musik ist ein sehr integraler Bestandteil meines Lebens und ist unabdingbares Werkzeug um den Alltag zu überleben. Dementsprechend gibt es viele Lieder mit denen ich Stimmungen, oder ganze Phasen meines Lebens verbinde, es gibt sogar Lieder mit denen ich Teile meines Lebens verbinde, die nie geschehen sind. Dementsprechend dürfte es wohl ziemlich ausgeschlossen sein, da einzelne Lieder rauszupicken.

8. Was sollte deiner Meinung nach in Deutschland verboten werden?

Ich hätte da eine längere Liste mit diversen schädlichen „Therapie“ansätzen gegen Autismus …

9. Gibt es etwas nach dem Tod?

Gott ist leider grade in einer ziemlich spannenden Empire Earth-Partie gegen mein 15-jähriges-Ich und steht daher für Fragen nicht zur Verfügung.

10. Was machst du, wenn du nicht einschlafen kannst?

Das passiert tatsächlich häufiger, so dass es da mittlerweile eine ganze Reihe von Dingen gibt die ich mache. Einmal die Woche höre ich dabei den Einschlafen-Podcast, manchmal denke ich mir Plots für Kurzgeschichten aus. Jens ist auch in einer dieser schlaflosen Nächte entstanden. Außerdem nehme ich gelegentlich Podcasts auf wenn ich nicht zu müde dazu bin.

11. Was isst du auf deinem Teller zuerst? Das, was dir überhaupt nicht schmeckt, oder das was dir am besten schmeckt?

Ich esse immer abwechselnd von jeder Nahrungskomponente einen gleichen Teil. Da ich in der Regel meine Nahrung selbst zubereite kommen Dinge die mir gar nicht schmecken in der Regel aber auch nicht mit meinem Teller in Kontakt.

 

Damit wären wir jetzt bei dem Teil, wo ich mir 11 Fragen ausdenken und 11 Blogger nominieren müsste, worauf ich aber verzichte, da man das mit dem „alles mal ausprobieren“ auch nicht gleich übertreiben muss. Im Nachhinein fand ich das beantworten der Fragen übrigens gar nicht so doof, also wer weiß, vielleicht mach ich das in 4-5 Jahren noch einmal.

Margarete

Während er durch die große Glasdrehtür tritt, schüttelt Jens vergewissernd den Pappbecher in seiner Hand. Sicher, keinen Tropfen Kaffee zu verschwenden, wirft er ihn in einen Mülleimer am Eingang des großen Foyers. Der elfte des heutigen Tages, aber mit Sicherheit der letzte. Er blickt sich um. Jens steht einige Meter vor einem großen Empfangstresen, hinter dem eine Frau in Schwesternkleidung sitzt. Zu seiner Linken redet ein junges Paar auf einen grauhaarigen Mann im Rollstuhl ein. Die Worte „Hochzeit“ und „Schwanger“ hallen durch den Raum. ‚Alles wie immer‘, denkt er sich und geht an den Fahrstühlen vorbei ins verwaiste Treppenhaus des Altenheims.

Jens steigt die kargen Stufen bis in den vierten Stock hinauf und betritt einen dunklen Flur, in dem er sich orientierend umblickt. „417“ murmelt er leise und macht sich auf den Weg zum Ende des Ganges. Die Zimmertür ist nur angelehnt. Seine Hand tastet sich durch die Dunkelheit zur Türklinke, als er eine Stimme aus dem inneren des Zimmers hört und erstarrt.
„Bist du es, Margarete?“ fragt eine leise brüchige Männerstimme im Raum. „Ich bin nicht Margarete, ich bin Schwester Annika“ antwortet eine junge Frau sanft. „Du bist es, Margarete! Nach all den Jahren!“ erwidert die Stimme unbeirrt. Das fast unhörbare Seufzen der Schwester dringt aus dem Raum, bevor Jens Sie „Es stimmt, ich bin Margarete.“ sagen hört.

„Ich habe auf dich gewartet, jeden Tag und niemals aufgehört.“
„Wirklich niemals?“
„Niemals …“ er stockt bevor er weiterspricht. „Sechs Jahre lang saß ich jeden Tag am Fenster und habe auf dich gewartet.“
„Aber jetzt brauchst du nicht mehr warten. Jetzt bin ich bei dir.“
„Es war nicht umsonst.“

Jens glaubt ein lächeln in seinen Worten zu hören. Dann ist es eine ganze Weile still, nur die leisen, rauen Atemzüge sind zu vernehmen. Regungslos und ohne das geringste Geräusch zu machen, verharrt Jens vor der Tür und horcht in den Raum.

„Ich bin müde“ sagt die brüchige Stimme in die Stille hinein.
„Das ist ok. Du hast solange auf mich gewartet, du hast dir eine Pause verdient.“ sagt die junge Frau, jetzt mit einem leicht belegten Tonfall.
„Wirst du da sein, wenn ich aufwache?“ fragt er sie.
„Ich werde da sein. Und dann musst du nie wieder auf mich warten.“
„Das wird schön.“

Jens macht einen Schritt neben die Tür um durch den Spalt besser in den Raum sehen zu können. Ein dünner Mann mit schütteren, schneeweißen Haaren liegt auf einem Bett an der Wand. Neben ihm sitzt eine junge Frau in Schwesternkleidung und hält seine Hand in ihren Händen. Der Mann lächelt sie an. Jens beobachtet das sanfte Heben und Senken seines Pyjamahemdes. Während der lächelnde Mann langsam die Augen schließt, senkt sich der Brustkorb des Mannes ein letztes Mal.

Vollkommene Stille füllt Raum und den angrenzenden Flur. Als die junge Frau die Hand des Mannes vorsichtig auf seine bewegungslose Brust legt, hat Jens das Gefühl, eine Ewigkeit sei vergangen. Sie beugt sich noch einmal über seine Stirn, flüstert ihm leise „Bis bald“ zu und verlässt mit einer Träne auf ihrer Wange den Raum.
Nachdem sie im Fahrstuhl verschwunden ist, ohne Jens im Schatten des Flures zu bemerken, betritt er Zimmer 417 und zieht die Tür leise hinter sich zu. Diesmal hat er nicht so viel Zeit, bald würde jemand kommen und den Weißhaarigen abholen. Vorsichtig legt Jens seine Hand für einige Sekunden auf die des Mannes. Dann geht er wieder zur Tür und vergewissert sich, dass der Flur leer ist, bevor er den Raum verlässt, in den Fahrstuhl steigt und seinen Schlüssel im Schloss unterhalb der Etagenknöpfe umdreht.

Jens zog den Schlüssel aus dem Schloss und betrat den Korridor vor seiner Wohnung. Es gab Tage an denen die Vorfreude darauf, die Wohnungstür hinter sich zu schließen besonders groß war. Vorsichtig schloss er auf und blickte in die Augen von Frau Gerstmann, die hinter der Tür auf ihn gewartet hatte. Vorsichtig nahm er sie auf seinen Arm und legte seinen Schlüssel im Vorbeigehen auf die Kommode neben der Tür.

Nachdem er Frau Gerstmanns Abendessen sorgfältig auf einen Teller drapiert hatte, begann Jens Kartoffeln zu schneiden. Irgend etwas an seinem letzten Auftrag ließ ihn nicht los. Er grübelte die ganze Zeit, während er sein Essen zubereitete, während er aß und auch danach kreisten seine Gedanken um Margarete. Immer noch in sich versunken nahm er auf seinem Sessel Platz und sein Blick wanderte über die die Lichter der Stadt vor seinem Fenster. Jetzt erinnerte er sich an die Frau, auf die der Sterbende gewartet hatte. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Es war eine ein dunkler Herbstabend und es goss in Strömen. Damals hatte es Jens einige Mühen gekostet, zu diesem Fahrzeug zu gelangen, das am Fuße eines Abhangs in den Bäumen hing. Eine ganze Familie saß in diesem Auto fest und war Jens umfassendster Auftrag an diesem Tag. Die Zeit darüber nachzudenken, ob nicht anderswo jemand auf die Menschen wartete, nahm Jens sich selten. Das war in seinem Beruf einfach nicht möglich. Nur manchmal gab es diese Abende, an denen irgendetwas anders war. So wie heute.
Nachdenklich stand Jens wieder aus seinem Sessel auf, zog die Vorhänge zu und ging ins Schlafzimmer. Frau Gerstmann saß bereits wartend auf seinem Kopfkissen.

Der Alte im Zug

Jens betätigte den Knopf des Fahrstuhls und bemerkte dabei die Haare von Frau Gerstmann auf dem Ärmel seines Mantels. Lächelnd zupfte er sie ab und vergewisserte sich, dass Frau Gerstmann sonst keine Spuren hinterlassen hatte. Im Grunde war es für seinen Beruf vollkommen egal, wie er sich kleidete, aber Jens hatte ein stilvolles Auftreten schon immer als einen wesentlichen Teil seiner Berufsehre verstanden. Mit einem leisen Gong öffneten sich die Türen des Fahrstuhls und Jens trat hinein.

Die Tür des ICEs öffnet sich leicht rumpelnd. Während die Lautsprecherfrau auf dem Bahnsteig „Bitte nicht einsteigen“ sagt, steigt Jens in den Zug ein. So gut wie alle Fahrgäste sind bereits am Berliner Hauptbahnhof ausgestiegen und so geht Jens mit zügigen Schritten und suchendem Blick durch die Waggons. Erst im dritten Wagen wird Jens fündig. Ein älterer Herr mit grauen Haaren sitzt an einem Vierertisch und sein Kopf ruht auf seinen auf dem Tisch verschränkten Armen.
Jens verlangsamt seine Schritte, je näher er dem Mann kommt und bleibt schließlich direkt vor ihm stehen, ohne, dass sich bei dem Ruhenden eine Reaktion zeigt. Dies ändert sich auch nicht, als er sich auf den gegenüberliegenden Platz des Tisches setzt und den Mann vergewissernd am Arm berührt. Im Licht der durch die Fenster hineinscheinenden Morgensonne sind schwebende Staubkörner zu sehen, die träge von jener Stelle des Armes aus wegtreiben, die eben berührt wurde. Wenn man sich genau auf den Dunst konzentriert, kann man beinahe sehen, wie er sich langsam über den Körper ausbreitet. Schon nach einigen Minuten treibt vom gesamten Arm des Mannes ein leicht schimmernder Staub in den Waggon hinein. Auch nach Jahren ist Jens unverändert fasziniert von diesem Anblick, so dass er sich einige Minuten Zeit nimmt. Regungslos dasitzend beobachtet er, wie der leuchtend wegtreibende Dunst sich langsam über den alten Mann hinweg ausbreitet.

Als Jens einige Zeit später den Türknopf drückt, um den nach wie vor im Bahnhof stehenden Zug zu verlassen, hört er hinter sich den erstickten Schrei der Zugbegleiterin und tritt ohne sich umzudrehen auf den sonnenüberfluteten Bahnsteig. Mit leicht zusammengekniffenen Augen macht er sich auf den Weg die Rolltreppe herab, um in der Bahnhofsvorhalle den ersten Kaffee des Tages zu trinken.

Schlaf

Auf den Bauch drehen. Die Uhr anstarren. Auf die Seite legen, um die Uhr nicht mehr zu sehen.

Die Uhr nicht mehr sehen. Deshalb zurückdrehen. Feststellen, dass keine Minute verging. Podcasts hören wollen, um dabei einzuschlafen.

Alle Podcasts gehört haben. Aufstehen. Tee kochen. An den Rechner setzen. Backups machen. Netzwerkkabel nach Größe sortieren. Die drei Fragezeichen auf der Festplatte finden.

Ins Bett gehen. Feststellen, dass die drei Fragezeichen nicht die beste Unterhaltung sind, wenn man Erdgeschosswohnungen abseits gelegener Brandenburger Wohnheime bewohnt. Aufstehen, jedes Licht anmachen.

Auf dem Rückweg ins Bett über die Kiste mit den Netzwerkkabeln stolpern. Die Netzwerkkabel nun nach Größe und Farbe sortieren.

Im Zimmer auf und ab gehen. Dem Zeitungsboten zuwinken. Auf der Terrasse den Sonnenaufgang betrachten. Ins Bett legen.

In den zwei Stunden bis zum Weckerklingeln jede Minute einzeln niederstarren.

Snooze drücken.

Einschlafen.

Von autistischen Zügen

Manchmal entstehen aus Twitter-Blödeleien dann doch tatsächlich Blogtexte. So in diesem Fall ein Drehbuchfragment von MrsGreenberry von mir. Weit weg davon ernst genommen, geschweige denn sich selbst ernstzunehmen, aber an ernstgemeinten Inspirationen von anderen mangelte es uns dann leider auch nicht.


Szenerie: Ein warmer, heller Sonnentag, die Kamera fährt an einem Schmetterling entlang über einen Rangierbahnhof, auf dem einige junge Loks fröhlich spielen. Sie fährt auf eine einzelne Lok, die Abseits auf einer Rangierscheibe immer wieder im Kreis fährt.

Erzähler(off): Das ist Clemens. [bedeutungsschwere Pause]. Clemens leidet an Autismus. Er ist gefangen in seiner eigenen Welt und kümmert sich nicht um andere Menschen. Während andere Loks fröhlich miteinander spielen, ist Clemens nur mit sich selbst beschäftigt.

(Die Kamera fokussiert nach Clemens nun die im Hintergrund spielenden Züge. Melancholische Geigenmusik setzt ein.)

Erzähler(aus dem off. weiterhin begleitet von der Geigenmusik): Gefühle sind Clemens fremd. Freude, Trauer oder Mitleid kann er nicht empfinden.

(Die Kamera zoomt nun aus der Szene hinaus. Eine traurige Mutterlok wird sichtbar, die Clemens beobachtet. Die Kamera wechselt erneut und fährt langsam über ein vergilbtes Foto, auf dem Clemens allein auf einem Abstellgleis steht und mit seinem Schornstein Seifenblasen macht.)

Mutterlok(aus dem Off): Ich habe schon früh gemerkt, dass mit Clemens etwas nicht stimmt. Alle anderen Kinder waren immer so fröhlich. Bei Clemens waren nie Gefühle zu sehen.

Erzähler(off): Dann kam die schreckliche Gewissheit. [bedeutungsschwere Pause] Autismus. Prognose: unheilbar. Nun war es klar: Clemens wird niemals Beziehungen zu anderen Zügen aufbauen können, niemals ein selbstständiges Leben führen. Für immer ein Gefangener seiner eigenen Welt sein. Die Ursachen dieser schweren Erkrankung vermuten Experten in der Masernimpfung, die Clemens als Kleinkind erhielt. Noch heute macht sich seine Mutter große Vorwürfe. Noch dazu beginnt für die Eltern der schwere Weg, ihn aus seiner Welt zu befreien. Nach langer Suche finden sie einen Spezialisten, der ihnen helfen kann.

(Szenenwechsel, Besprechungszimmer eines Arztes, Blick über die Schulter der Mutter auf den Arzt)

Arzt: Die Erkrankung ihres Sohnes ist sehr ernst. Er wird den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein, doch mit viel Geduld und Trennkost können kleine Fortschritte erzielt werden, aber trotz allem wird er immer ein sehr kranker autistischer Zug sein. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der gluten- und kaseinfreien Ernährung gemacht. Auch der Verzicht auf Kohlehydrate kann wahre Wunder bewirken. Außerdem haben wir grade frisch aus den USA von einer neue Behandlungsmethode mit Stuhlverpflanzungen erfahren, die wahre Wunder vollbringen soll.
[er überreicht den Eltern einen dicken Stapel Flyer]
Arzt: Wir wollen doch nichts unversucht lassen, einer jungen Lok wie Clemens zu helfen.

(Szenenwechsel mit Einblendung: Zwei Wochen später)

Erzähler(off): Clemens spricht seine ersten Worte. Zehn Tage Darmspülungen und Trennkost brachten diesen wundervollen Erfolg und verwandelten Clemens in einen ausgelassenen jungen Zug. Clemens wurde ein kleines Stück aus der einsamen Welt seiner unheilbaren Krankheit Autismus befreit.

(Die Szene wird zu Colplay – Paradise ausgeblendet)

Samstag, 22:30 Uhr

Das Gerücht, dass die letzten Monat ausgebrannten Waschmaschinen gegen neue  ausgetauscht wurden, hatte sich als Wahrheit herausgestellt. Ich betrachtete den Berg Wäsche und wunderte mich, dass ich zwar in Brandenburg lebte, aber es trotzdem keine Möglichkeit gab, einen Lastesel zu mieten.

Mit zwei IKEA-Taschen Wäsche trat ich aus meinen Zimmer in die Küche, um direkt auf die entblößte Glutealregion eines sichtbar angestrengten Japaners zu blicken, der seine gesamte Konzentration darauf verwendete, seinen Blaseninhalt in meine Küchenspüle zu befördern. Während ich ihn unhöflich aber nachdrücklich bat, dies zu unterlassen, blickte er sich erschrocken um, sackte in sich zusammen und blieb liegen. Ich überlegte kurz, wie lange die Waschmaschine wohl noch frei bliebe, und ließ ihn liegen, um kurz darauf über einen vor meiner Tür kriechenden Bayern zu stolpern. Dieser war damit beschäftigt sowohl seine Hose als auch seine Brille zu suchen.

Mein erster Mitbewohner meinte, ich würde mich an die Samstag-Abend-Hindernisläufe gewöhnen. Geglaubt habe ich ihm nicht, aber nach dem zweiten Jahr entwickelte sich eine gewisse Routine. Nachdem ich über einen weiteren Bayern, mit fremder Brille und zwei Hosen, sowie ein koitales Pärchen kletterte, konnte ich dann die Waschmaschine neben zwei Herren  und einer Schubkarre befüllen und schaute ihnen dabei zu, wie sie abwechselnd Sand des örtlichen Spielplatzes in die Trommel füllten und dabei laut saubere Spielplätze forderten, bis mir einfiel, dass in meiner Küche ja noch ein Japaner liegt.

Auf dem Rückweg stellte ich sowohl fest, dass das Pärchen sich inzwischen getrennt hatte und Flaschen aufeinander warf, als auch, dass sich vor meiner Küche eine Schlange gebildet hatte und der, wieder voll bekleidete, Bayer 5 € dafür nahm, zwei Minuten mit dem Japaner und einem Edding allein zu sein. Es brauchte einige Minuten, bis ich ihn überzeugte, dass es nicht seine beste Idee wäre, 5 € von mir zu verlangen, um mich meine Küche betreten zu lassen, und legte ihm nahe, mir 30 % des Geldes zu geben und dann mitsamt dem Japaner aus meiner Küche zu verschwinden.

… und während er den Japaner in die leere Sandschubkarre verlädt und die Küche räumt, probe ich vor dem Spiegel, meinem Mitbewohner die Wichtigkeit des Türschließens einzubrüllen.

Ziellos

Es hat einige Vorteile, in Brandenburg zu wohnen. Insbesondere nachts. Dazu gehört keinesfalls der Umstand, dass man nach sechs hier kaum noch wegkommt und das nächste Fast Food für eine angemessene Hungerattacke um drei Uhr morgens erst ein Bundesland weiter zu bekommen ist.
Was jedoch eindeutig dazu gehört, ist, dass man hier nach 22 Uhr nur noch drei Sorten von Menschen begegnet. Bestattern, Polizisten und anderen Studenten. Und das auch nicht sonderlich häufig und so, dass man sie früh genug hört, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Es ist ruhig hier draußen. Verlässt man das Wohnheim, schlägt sich durch einige Hecken und läuft dann eine Weile durch ein Waldstück, kommt man irgendwann zu einer Straße, die nicht viel heller ist als das Waldstück zuvor. Nach einer weiteren Weile Straße kommt man dann zu einigen Brennnesseln hinter denen Schienen liegen.
Wie so vieles andere hier, waren auch sie mal viel besser in Schuss. Einige der Schienenstränge bestehen nur noch aus ihren Schwellen, auf die man treten kann, um weiter zu kommen. Wenn man nicht weiter kommen will, kann man sich auf sie setzen und könnte vorbeifahrende Züge beobachten. Sofern um diese Uhrzeit Züge fahren würden. So sitzt man da und schaut die Schneise entlang Richtung Horizont. Im Blick nach links sieht man Sterne. Mehr Sterne, als man das durch die Stadt, in der man aufwuchs, gewohnt sein kann. Der Horizont am gegenüberliegenden Ende der Schneise ist gelb erleuchtet von den Lichtern eines anderen Bundeslandes.
So sitzt man da. Zwischen Berlin und dem Nirgendwo – oder zwischen Berlin und den Sternen. Je nach der Laune, in der man grade ist. Und man wartet darauf, dass der 5:30-Uhr-Güterzug vor einem vorbei rauscht, um mit dem Verklingen seiner Geräusche sich selbst auf den Rückweg in ein Bett zu machen.